Wie werden Auszubildende schneller fit für den betrieblichen Alltag? |
Die Prozessleitsimulation macht die angehenden Chemikanten schon in der Ausbildung damit vertraut, wie eine Anlage später im beruflichen Alltag am besten gefahren wird. |
Die Auszubildenden bei WACKER erleben reale und sehr komplexe Abläufe an virtuellen Anlagen. |
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Bernhard Horner blickt über seine Bildschirme auf die sechs jungen Leute, die ihm gegenübersitzen. Sie verschwinden fast hinter jeweils drei Computermonitoren, deren bläuliches Glimmen sich in ihren Gesichtern spiegelt. „Was würde passieren, wenn an dieser Stelle ein Alarm ausgelöst würde?“, fragt der dunkelhaarige, sportliche Chemie- und Physik-Ausbilder in den mit Tischen und Stühlen eingerichteten Raum hinein. Er deutet mit dem Finger auf einen länglichen Behälter aus einer Destillationsanlage, die als Grafik auf der Beamer-Präsentation hinter ihm an der Wand zu sehen ist. Die Jugendlichen, die gerade am Anfang ihres zweiten Lehrjahres bei WACKER stehen, schauen auf den komplexen Schaltplan. Sie zögern einige Sekunden, bis sich einer meldet: „Das Befüllventil würde sich öffnen und das Edukt aus Essigsäurevinylester und Essigsäure zuführen.“ Horner nickt zufrieden. Aufgabe gelöst. |
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Störungen erkennen, Drücke verändern, Lüfterdrehzahlen senken: komplexe Aufgaben aus dem Arbeitsalltag, die die Auszubildenden bei WACKER am Computer virtuell erleben, analysieren und bearbeiten können. „Unsere 2008 eingeweihte Prozessleitsimulationsanlage macht die Ausbildung anschaulicher und lebensnäher“, erklärt der 47-Jährige, während er die Lehrlinge aufmerksam beobachtet. „Die Auszubildenden verstehen verfahrenstechnische Zusammenhänge besser, bekommen einen Eindruck von unserem Prozessleitsystem, an dem sie wie im Echtbetrieb arbeiten können, und können vor allem sämtliche Schritte wiederholt ausführen und ausführlich reflektieren.“ 44 Chemikanten der Wacker Chemie AG, die zu den 176 Chemikanten in den 47 WACKER-Ausbildungsbetrieben gehören, werden jährlich ausgebildet. Sie interpretieren Trendkurven, die über längere Zeiträume den Produktionsverlauf aufzeichnen und dokumentieren, stellen Reglerparameter optimal ein, nutzen Online-Pflichtenhefte und können virtuell Anlagen an- oder abfahren. Horner berichtet sehr engagiert von dem neuesten Werkzeug, in das er gemeinsam mit fast einem Dutzend Kollegen aus der WACKER-eigenen Ingenieurtechnik und dem Berufsbildungswerk seit 2005 viel Energie gesteckt hat. Das Team entwickelte eine Software, die das Prozessleitsystem, das in den Betrieben angewendet wird, mit dem Simulationssystem verknüpft. „Mit dem Prozessleitsimulator können wir knapp 100 Messinstrumente einer Destillationsanlage darstellen und mit Sensoren und Handventilen virtuell bedienen – dazu löst das Simulationssystem 20.000 Gleichungen mit 47.000 Variablen“, beschreibt er die Funktionsweise der Simulationsanlage, die eine Übungsanlage im Ausbildungstechnikum ergänzt. |
Arbeiten wie im Echtbetrieb: Die 2008 eingeweihte Prozessleitsimulationsanlage macht die Ausbildung für die Chemikanten anschaulich und lebensnah. |
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Bernhard Horner lernte bei WACKER 1977 den Beruf des Chemiefacharbeiters, dann war er sechs Jahre in der Produktion und als stellvertretender Meister tätig. Anschließend machte er seinen Industrie-meister. Heute ist er Ausbilder für Chemie und Physik im WACKER-eigenen Berufsbildungswerk Burghausen, wo er die Prozessleitsimulationsanlage mit aufbaute. |
Dort blubbert in mehreren gläsernen Destillationskolonnen eine durchsichtige Flüssigkeit, angeschlossen an Rohrleitungen, Schläuche und Stromkabel. Die Produktion im kleinen Maßstab trennt Alkohol von Wasser. Bernhard Horner nähert sich vorsichtig mit der rechten Hand einem der 78 Grad Celsius heißen Kolonnen, in dem die Prozesse zu sehen sind, die sich sonst hinter Stahl verbergen. „Genauso führen wir die Auszubildenden an die Anlagen heran“, sagt er. „Sie müssen die Hitze spüren, Respekt bekommen, aber zugleich die Funktionen zu verstehen und zu beherrschen lernen.“ |
Lernen mit allen Sinnen: Ganzheitliche Ausbildung bekommt bei Wacker immer größeren Stellenwert. |
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Die Destillationsanlage im Kleinmaßstab trennt Alkohol von Wasser. In den gläsernen Destillationskolonnen werden Prozesse sichtbar, wie sie auch in den Großanlagen im Werk ablaufen. |
Dieser ganzheitliche Anspruch an das Lernen bekommt in der Ausbildung bei WACKER einen immer größeren Stellenwert. „Wir haben von 1996 bis 2000 einen Modellversuch durchgeführt, dessen Ergebnis eindeutig war: Die Azubis müssen mit allen Sinnen lernen und dazu haptische, optische und akustische Erfahrungen durch eigenes Handeln sammeln und speichern“, sagt Horner. Deswegen sollen in Zukunft auch in der Simulationsanlage Geräusche, Bilder und Videos zu hören und zu sehen sein, die aus der großen Anlage im Werk stammen. Die virtuelle Anlage will Horner übrigens nicht nur in der Erstausbildung nutzen. „Auch andere Mitarbeiter oder Kollegen, die innerhalb des Konzerns ihren Produktionsbetrieb wechseln, könnten sich so auf die neuen Arbeitsbereiche einstellen“, sagt der Ausbilder. „Wo können die Mitarbeiter sonst mit Netz und doppeltem Boden so nah an die Wirklichkeit herankommen?“ |
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1 Eine der Hauptaufgaben von Chemikanten: Prozesse beobachten, überwachen, eingreifen und dokumentieren. 2 Im Ausbildungstechnikum können über die Leitstände verfahrenstechnische Anlagen bedient werden. 3 Bernhard Horner beobachtet und beurteilt die Bedieneingriffe der Schulungsteilnehmer während der Prozesssimulation. 4 Das Gespräch und der Austausch über die Erfahrungen bei der Prozesssimulation ist ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung. |