Fliehkraft

18 Jugendliche aus Afghanistan, Syrien und Afrika besuchten im Jahr 2016 die berufliche Orientierungswoche bei WACKER. Zwölf Minderjährige, die aus ihren Ländern geflohen sind, wohnen im Jugendgästehaus des Berufsbildungswerks. Zwei Frauen, eine Afghanin und eine Syrerin, absolvieren eine Ausbildung zur Bürokauffrau – WACKER setzt auf verschiedenen Ebenen an, um junge Menschen zu integrieren. Dabei gibt es immer wieder Überraschungen.

Sechs Jugendliche stehen im Berufsbildungswerk Burghausen erwartungsvoll um Alfons Kimberger herum. Der Metallausbilder zeigt ihnen eine Metallplatte, die sie in den kommenden Stunden zurechtsägen und zu einer kleinen Box verarbeiten sollen. Er erklärt den jungen Männern aus Afghanistan, Eritrea oder Syrien, was ein „Körner“ ist und wie man damit Markierungspunkte auf das Stahlblech setzt, das zuvor mit einem Meterstab ausgemessen wurde.

Insgesamt begrüßt Kimberger an diesem Tag drei Sechserteams, die bei ihm während der WACKER-Orientierungswoche für junge Flüchtlinge in den Bereich „Metall“ hineinschnuppern. Parallel dazu stehen weitere Kurse in den Bereichen „Chemie“ und „Elektrotechnik“ an. Kimberger plante für seinen Metallkurs mit einem großzügigen Zeitfenster: Eine Stunde fürs Zeigen und Erklären, eine Stunde für die handwerkliche Arbeit und eine Stunde Puffer. Aber er merkt bald, dass er etwas knapp kalkuliert hat: Er muss besonders ausführlich erklären und genau vormachen, wie man zum Beispiel einen Schlosserhammer benutzt. Besonders positiv fällt Kimberger auf: „Die Jungs sind sehr motiviert, wissbegierig und höflich.“

Am Ende ist keine der Metallboxen gänzlich perfekt geraten, aber darauf kommt es auch gar nicht an. Viel wichtiger ist, dass die Jugendlichen Spaß an der handwerklichen Arbeit hatten und dass sie einen ersten Einblick in die Anforderungen bekommen haben, die jemand erfüllen muss, der sich zum Industriemechaniker oder zum Chemikanten ausbilden lassen möchte. Dabei helfen ihnen neben den praktischen Übungen auch die Gespräche, die sie während der Orientierungswoche mit WACKER-Azubis geführt haben. Und sie haben bei WACKER die Produktionsanlagen gesehen, die Werkstätten, das Wasserkraftwerk, die riesigen Logistik-Hallen mit den vielen Gabelstaplern und den unzähligen blauen Fässern.

Und auch die Ausbilder bei WACKER haben wichtige Lernerfahrungen gesammelt. Sie wissen jetzt, dass beim Umgang mit jungen Flüchtlingen viel Geduld gefragt ist und dass es ganz schön anstrengend sein kann, etwas zu erklären, wenn die Probe-Azubis viele unterschiedliche Sprachen sprechen. „Auf der anderen Seite hat sich durch die Orientierungswoche mein eigener Blickwinkel verändert“, sagt Alfons Kimberger, „ich kann mich jetzt viel besser in die Lage dieser jungen Menschen hineinversetzen.“

Alfons Kimberger zeigt einer Gruppe junger Flüchtlinge die Handhabung einer Bohrmaschine (Foto)

Berufliche Orientierungswoche im Berufsbildungszentrum Burghausen: Ausbilder Alfons Kimberger weist eine Gruppe junger Flüchtlinge in die Bedienung einer Bohrmaschine ein.

Teilnehmer der Orientierungswoche sind mit vollem Elan bei der Sache (Foto)

Neben „Metall“ und „Chemie“ können die Emigranten auch in den Bereich „Elektrotechnik“ hineinschnuppern.

Und BBiW-Geschäftsführer Dr. Wolfgang Neef ergänzt: „Wir tragen als Unternehmen soziale Verantwortung und wollen dazu beitragen, dass Menschen, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind, sich bei uns integrieren können. Das kann nicht einer alleine machen, sondern es gibt Helferkreise, schulische Unterstützung, politisches Engagement – und eben auch die Unterstützung durch Unternehmen.“

Kooperation in der Bildungsarbeit

Die Orientierungswoche ist nur ein Beispiel dafür, wie sich WACKER für junge Emigranten einsetzt. Ein anderes ist die Münchener SchlaU-Schule, die WACKER über mehrere Jahre hinweg mit insgesamt 200.000 Euro fördert. Die Schule gilt als vorbildlich in der Bildungsarbeit mit Flüchtlingen – und wurde unter anderem mit dem Integrations-Bambi und dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. SchlaU-Geschäftsführer Björn Schalles sagt: „Mir gefällt, dass wir von WACKER nicht nur finanziell unterstützt werden, sondern auch inhaltlich kooperieren. Wir können von WACKER zum Beispiel lernen, wie ein Chemiekonzern funktioniert oder was es heißt, im ländlichen Raum mit Flüchtlingen zu arbeiten.“ Die Strukturen zwischen Stadt und Land seien komplett verschieden – so seien Vereine auf dem Land für die Flüchtlingsarbeit viel wichtiger als in der Stadt. Mitarbeiter der SchlaU-Schule wiederum gaben den WACKER-Ausbildern wertvolle Tipps zum Umgang mit Jugendlichen aus weit entfernten Ländern oder zu aufenthaltsrechtlichen Fragen. Und auch für die Orientierungswoche gaben die Experten von SchlaU wichtigen Rat – umgesetzt hat das BBiW das Projekt dann zusammen mit der Berufsschule Altötting.

Dort kümmert sich Oberstudienrat Matthias Lang um Praktikumsplätze für die Schüler aus Flüchtlingsländern. Er sagt über die Orientierungswoche: „Die Jugendlichen bekamen einen sehr guten, praxisbezogenen Einblick in die Arbeitswelt der Industrie.“ Einige konnten nach der Woche die chemischen Berufsfelder für sich ausschließen. Andere wiederum blieben neugierig. Und allen war klar: Sie müssen vor allem ihre deutschen Sprachkenntnisse erweitern und verbessern, damit es mit einer Ausbildung klappt.

Perspektiven im Jugendgästehaus

In Sichtweite des BBiW steht das Jugendgästehaus mit 78 Zimmern. Die meisten davon werden von Azubis aus Deutschland und Österreich belegt. Aber 2014 entschloss sich WACKER, „die freien Plätze zu nutzen, um unbegleiteten Minderjährigen eine Heimstätte und vor allem eine Perspektive zu geben“, erklärt Wolfgang Neef. Insgesamt zwölf Jugendliche aus Afghanistan und Afrika zogen ein. Sechs von ihnen besuchen heute eine Integrationsklasse der Berufsschule mit dem Ziel, einen qualifizierten Schulabschluss zu erreichen. Sechs weitere haben bereits einen Ausbildungsplatz gefunden: Als Elektroniker, KfZ-Mechatroniker, Elektroniker, Maler, Metzger und Verkäufer. Zwei Sozialarbeiter betreuen die Jugendlichen. „Anfangs blieben Afghanen und Afrikaner jeweils unter sich“, erzählt Wolfgang Neef, „aber inzwischen ist der Kontakt mit anderen Jugendlichen kein Problem mehr“. Alle zusammen spielen regelmäßig Fußball oder gehen Joggen. Nur die Kühlschränke der Geflüchteten sind mit anderen Lebensmitteln gefüllt – ohne Wurst und Schweinefleisch, dafür mit Hähnchenschenkeln und exotischem Gemüse und Getreide.

WACKER hatte ursprünglich vor, fünf Prozent seiner Ausbildungsplätze an Flüchtlinge zu vergeben. „Aber dann haben wir gemerkt, das geht nicht“, sagt Wolfgang Neef. Denn alle Bewerber werden gleich behandelt, unabhängig von ihrer Herkunft. Entscheidend ist alleine die Frage, wer am besten für einen bestimmten Ausbildungsplatz geeignet ist – beim Eignungstest scheitern jedoch viele Menschen aus dem afrikanischen oder arabischen Kulturkreis an den erforderlichen Sprachkenntnissen.

Homa und Fay: Erst Bachelor-Abschluss, dann WACKER-Ausbildung

Bei Homa und Fayhaa war das anders. Beide absolvieren seit September 2016 eine dreijährige Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement – und sind damit die einzigen Flüchtlinge unter den 158 Azubis, die im Jahr 2016 ihre Ausbildung bei WACKER begonnen haben.

Homa und Fayhaa: Die ersten Geflüchteten, die eine Ausbildung bei Wacker begonnen haben (Foto)

Homa (links) und Fayhaa sind die ersten Geflüchteten, die eine Ausbildung bei WACKER begonnen haben.

BBiW-Geschäftsführer Dr. Wolfgang Neef (Foto)

BBiW-Geschäftsführer Dr. Wolfgang Neef engagiert sich mit Ausbildern für die Integration von Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen mussten.

Homa kommt im März 2014 nach Deutschland. In der Zeit davor studiert sie in Afghanistan persische Literatur, macht einen Bachelor-Abschluss und arbeitet kurze Zeit als Dozentin an einer Universität. Gleich zu Beginn wird ihr gesagt, sie dürfe nicht so laut sprechen, dass die Männer im angrenzenden Seminarraum sie hören können. Am zweiten Tag empfiehlt ihr ein Dozent, sie solle ihre langen schwarzen Haare abrasieren, damit sie nicht mehr aus dem Kopftuch rausschauen. Und wenig später sagt ein Student zu ihr: „Wenn du Nagellack aufträgst, schneide ich dir den Finger ab.“ Antworten darf sie nicht auf diese Drohung, denn als Frau ist es ihr verboten, mit männlichen Studenten zu reden. Sie hatte das Glück, in einer aufgeschlossenen Familie aufzuwachsen. Zwar hätte ihre Mutter gerne gesehen, dass auch Homa wie ihre drei Schwestern mit 18 Jahren heiratet, aber sie akzeptiert Homas Entscheidung, lieber Sprachkurse zu machen, zu studieren und zu reisen. Jahrelang kämpft sie in Afghanistan für Frauenrechte, fordert mit Fragen heraus wie: „Warum muss ich ein Kopftuch tragen und die Männer nicht? Und warum dürfen Männer vier Frauen haben, aber ich darf keine vier Männer haben?“ Solche Sätze bringen Homa in Lebensgefahr. „Ich hätte mich opfern können in Afghanistan“, sagt die 27-Jährige heute, „aber das wollte ich nicht. Ich wollte leben.“ Sie flieht und lebt heute bei einer Familie in der Nähe von Burghausen.

Ähnlich wie Homa schließt auch Fayhaa, die alle Fay nennen, ein Studium ab. Sie macht in der pulsierenden syrischen Großstadt Aleppo ihren Bachelor in Betriebswirtschaft. Fays Berufsaussichten sind hervorragend, und sie startet ihre Karriere in einem Telekommunikationsunternehmen, bevor sie mit ihrem Mann für eine Stelle als Personalleiterin nach Dubai zieht. In Dubai kommt Fays Tochter zur Welt. Doch als Fays Mann seine Arbeitsstelle verliert, und die junge Familie wieder zurück nach Syrien ziehen möchte, schlagen die ersten Granaten in Aleppo ein. So beschließen Fay und ihr Mann im September 2015, nach Deutschland zu fliegen. Sie landen schließlich in Burghausen, wo der Helferkreis Fay empfiehlt, sich bei WACKER zu bewerben.

Die Tochter als Deutschlehrerin

Fay und Homa sprechen bei ihrer Ankunft in Burghausen kein Wort deutsch – Homa beherrscht allerdings sechs andere Sprachen und Fay hat in Dubai ausschließlich Englisch gesprochen. Beide sind also sprachbegabt und finden in Bayern hervorragende Deutschlehrer. Bei Homa ist es die Gastfamilie, bei der 34-Jährigen Fay ihre kleine Tochter – sie besucht einen Kindergarten, lernt dort Deutsch und auch ein wenig Bayerisch und gibt alles an ihre Mutter weiter. Mit dem Ergebnis, dass Fay ebenso wie Homa den Eignungstest bei WACKER mit Bravour besteht.

Gerhard Stadler, Leiter der kaufmännischen Abteilung bei WACKER, gibt den beiden persönlich am Telefon die Zusage und bittet sie, zur Unterschrift ins Ausbildungszentrum zu kommen. „Meistens schicken wir die Verträge einfach zu“, sagt er, „aber ich wollte ihnen alles erklären.“ Anders als sonst üblich verläuft auch die Fahrt zur Einführungswoche für die neuen Azubis. „Wir fahren immer nach Berchtesgaden und nehmen dabei die Abkürzung durch Österreich“, verrät Stadler, „aber das ging diesmal nicht, weil die beiden ja nicht ausreisen dürfen.“ Während der Einführungswoche übersetzt Fay übrigens für einen angehenden WACKER-Azubi aus Hannover – vom Bayerischen ins Deutsche.

Homa erlebt gleich zu Beginn ihrer Ausbildung einige Überraschungen: „In Afghanistan stehe ich auf und überlasse dem Chef meinen Stuhl, wenn er ins Zimmer kommt, das ist hier anders. Und Herr Stadler kocht sich auch seinen Kaffee selbst – für einen Chef in Afghanistan wäre das undenkbar.“ Homa und Fay wechseln regelmäßig in eine neue Abteilung, lernen so nach und nach das komplette Unternehmen kennen. „Es ist ein Traum, bei WACKER zu arbeiten“, sagt Fay. Nach der Ausbildung haben beide wahrscheinlich gute Chancen, bei WACKER zu bleiben. „Bei guter Leistung gibt es eine Übernahmegarantie für mindestens zwölf Monate“, sagt Gerhard Stadler, „und auch für eine unbefristete Anstellung stehen die Chancen nicht schlecht.“

Gerhard Stadler hat durch Homa und Fay ganz neue Einblicke in das Leben in Afghanistan und Syrien bekommen: „Dort gibt es ja nicht nur Krieg, Soldaten und Taliban“, sagt er. „Durch die beiden erfahren wir viel über das Land und seine Menschen, was in den Nachrichten nicht vorkommt, zum Beispiel über die Kultur oder auch die Rolle der Frau in Afghanistan.“ Wolfgang Neef sieht in den beiden vor allem „ganz normale, fähige junge Leute, über deren Entwicklung wir uns freuen – so wie ich es immer schön finde, wenn Chancen geboten und genutzt werden.“

Vielleicht ebnet ja die Orientierungswoche, die 2017 wieder stattfinden soll, für den einen oder anderen weiteren Jugendlichen auch den Weg zu einer Ausbildungsstelle in einem technischen Beruf. Alfons Kimberger will in seiner Werkstatt wieder kleine Metallboxen anfertigen lassen. Diesmal allerdings werden die Jugendlichen deutlich mehr Zeit bekommen. Denn die Arbeit mit Flüchtlingen ist kein Sprint, sondern ein Marathon. „Es braucht Zeit“, sagt Kimberger, „nur so kann es gehen.“

1 Berufliche Orientierungswoche im Berufsbildungszentrum Burghausen: Ausbilder Alfons Kimberger weist eine Gruppe junger Flüchtlinge in die Bedienung einer Bohrmaschine ein.
2 Neben „Metall“ und „Chemie“ können die Emigranten auch in den Bereich „Elektrotechnik“ hineinschnuppern.
3 Homa (links) und Fayhaa sind die ersten Geflüchteten, die eine Ausbildung bei WACKER begonnen haben.
4 BBiW-Geschäftsführer Dr. Wolfgang Neef engagiert sich mit Ausbildern für die Integration von Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen mussten.