Fokusinnovation
Mumbai steht niemals still. Schon gar nicht mittags. Dann schwärmen im Zentrum der 35-Millionen-Metropole die Dabbawalas mit ihren blütenweißen Schiffchen-Hüten aus. In kleinen Eimern bringen sie das Mittagessen direkt in die Büros des indischen Handelszentrums. Vor knapp 20 Jahren war dies für sie noch ein ziemlich ungesunder Slalom auf Sandalen zwischen hupenden Taxis, überfüllten Bussen und knatternden Mopeds. Die Stadt zählte 2011 noch 20 Millionen Einwohner und hüllte sich in eine schmierige Hülle aus beißendem Smog. Doch im Jahr 2030 haben sich der Lärm und der Gestank aus der Megacity verzogen. Elektromobilität hat in der Innenstadt Einzug gehalten, mit abgasfreien, lautlosen City-Mobilen, staufrei und perfekt gesteuert von intelligenter Telematik. Zu schön, um wahr zu sein?
2011 arbeiten bei WACKER in der zentralen Forschung in München Chemiker, Festkörperchemiker und Physiker mit Hochdruck an Energiespeichertechnologien, um einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Elektromobilität den Weg zu bereiten. Seit einem Jahr leitet Dr. Jürgen Pfeiffer das Technologiemanagement im Bereich Energiespeicherung und -wandlung. Der Chemiker führt dabei das Know-how des Unternehmens in der Silicium-, Silicon-, Silan- und Polymerchemie zusammen, um es für die Lithium-Ionen-Batterieforschung nutzbar zu machen. „Diese Kombination“, sagt Pfeiffer stolz, „ist weltweit einmalig. Damit verbinden sich große Chancen für WACKER.“
Branchenübergreifender Schulterschluss
Mit dem Ziel, bis 2020 in Deutschland eine Million Elektroautos auf den Markt zu bringen und das Land zum Leitmarkt für Elektromobilität aufsteigen zu lassen, hatte die Bundesregierung 2010 die „Nationale Plattform Elektromobilität“, kurz NPE, ins Leben gerufen. „WACKER positioniert sich hier als kompetenter Aktivmaterialhersteller“, sagt Pfeiffer, der mit seinen Kollegen das Unternehmen in den NPE-Arbeitsgruppen vertritt. „Einen solchen unternehmens- und branchenübergreifenden Schulterschluss hat es noch nie gegeben. Von Rohstofflieferanten bis hin zu Unternehmen der Automobilindustrie sind Vertreter mit an Bord, auch bei der Definition von Anforderungen und Spezifikationen. Das erhöht das Tempo und die Effizienz der Entwicklungen.“
Silicium bietet den Schlüssel zu höherer Energiedichte bei Lithium-Ionen-Batterien. WACKER-Forscher suchen nach Antworten, um die Reichweite von E-Mobilen künftig bis um das Vierfache zu steigern.
Reichweiten von bis zu 600 Kilometern, wie sie bei Verbrennungsmotoren üblich sind, schaffen gängige Energiespeicher von E-Mobilen nicht. Für 60 bis 100 Kilometer reicht derzeit im Schnitt der Strom aus Batterien. Das klingt nach wenig, aber: „In Europa bewegen sich mehr als 70 Prozent aller Fahrten unter 40 Kilometern täglich“, erklärt Pfeiffer. „Wenn diese auf Basis von regenerativ erzeugtem Strom rein elektrisch bewältigt würden, ließe sich schon heute ein Großteil der CO2-Emissionen aus dem Individualverkehr vermeiden.“
Der Zeitpunkt, in die Autobatterie-Entwicklung einzusteigen, ist für WACKER gut gewählt. „Die Stromspeichertechnik wird zum Technologieträger bei der Elektrifizierung der Antriebe“, so Professor Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des CAR-Center Automotive Research an der Universität Duisburg-Essen. Um das Jahr 2025 rechnet Dudenhöffer bei Hochleistungsbatterien für Fahrzeuge mit einem Umsatzvolumen von 130 Milliarden Euro.
Asien hat auf dem Weg zu Turbobatterien ein hohes Tempo vorgelegt. Allen voran Japan, Korea und China, die als wichtigste Hersteller von elektronischen Kleingeräten den Fortschritt bei Lithium-Ionen-Energiespeichern geprägt haben. Das Funktionsprinzip ist einfach: Beim Laden bewegen sich positiv geladene Lithium-Ionen von der Kathode zur Anode. Bei der Entladung verläuft der Prozess umgekehrt. Je mehr Lithium-Ionen Anode und Kathode aufnehmen können, desto mehr Energie kann der Akku speichern.
Silicium in Batterien erhöht deren Leistungsfähigkeit signifikant.
Während auf der Kathode meist Übergangsmetalloxide z.B. von Cobalt oder Mangan oder Eisenphosphat zum Einsatz kommen, wird heute für die Anode überwiegend Graphit verwendet. Diesen wollen die Forscher zunehmend durch Silicium ersetzen. Der Grund: Silicium hat im Vergleich zu Kohlenstoff theoretisch eine bis zu zehnfach höhere Aufnahmekapazität für Lithium-Ionen. Das Problem: Während sich Graphit bei der Einlagerung von Lithium-Ionen um etwa zehn Prozent ausdehnt, beträgt die Volumenveränderung bei Silicium bis zu 300 Prozent. „Hier arbeiten wir am Design von siliciumbasierten Aktivmaterialien, die auf der Anode fest verankert, aber dennoch in sich flexibel sind. Ziel ist es, die absolute Volumenzunahme bei der Lithium-Ionen-Einlagerung deutlich zu verringern, was die Lebensdauer solcher Materialien signifikant erhöht“, erläutert Jürgen Pfeiffer.
Wo auch immer die Optimierungen ansetzen, das Gewicht muss passen: Pro 1.000 Kilogramm Fahrzeuggewicht rechnen Autohersteller heute mit einem Batterieanteil von 200 Kilogramm. „Wir müssen also eine höhere Energiedichte in diese 200 Kilogramm bringen.“ Die heute eingesetzten Elektrolytlösemittel bestehen aus organischen Verbindungen, die niedrig siedend und hoch brennbar sind. Entsprechend gewichtige Sicherheitsummantelungen müssen das System schützen. „Hier könnten siliciumhaltige Elektrolyte, die schwerer entflammbar sind oder veraschen, zur Sicherheit von Lithium-Ionen-Batterien beitragen. Sie könnten eine Gewichtsreduktion durch Wegfall von überflüssig werdenden Sicherheitsmaßnahmen ermöglichen.“
Innovationen verlagern den Fokus auf das Machbare
Um solche komplexen chemischen und physikalischen Fragestellungen zu beantworten, folgen die WACKER-Entwickler einem klar strukturierten Innovationsfahrplan. Der „Stage-Gate-Prozess“ führt von der Ideenfindung bis zur Markteinführung. „Dieser Fahrplan verlangt eine straffe Fokussierung auf das Machbare“, betont Pfeiffer. Dabei dürfe aber auch die freie Forschung nicht zu kurz kommen. Besonders begeistern den 44-Jährigen die vielen kreativen Köpfe in den beteiligten Teams. „Um innovativ zu sein, sind neben herausragenden Fachkenntnissen vor allem auch Begeisterungsfähigkeit, zielgerichtetes Handeln und die Fähigkeit gefragt, über den eigenen Tellerrand zu schauen.“ Dazu finden Informationsrunden auf allen Arbeitsgruppenebenen statt. Sie sorgen bei Produkt- und Verfahrensinnovationen für einen durchgängigen Kommunikationsfluss. Hinzu kommt der Gedankenaustausch mit Unternehmen, Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen.
„Schritt für Schritt geht’s auf den Gipfel“, weiß Pfeiffer, der sich in seiner Freizeit dem Bergsport verschrieben hat. Er rechnet damit, dass zukünftige „Post-Lithium-Ionen“-Technologien, zum Beispiel auf Lithium-Schwefel- oder Lithium-Luft-Basis, frühestens 2025 bis 2030 für die Markteinführung reif sein könnten. Mit diesen Technologien könnte sich die Reichweite elektrisch betriebener Fahrzeuge gegenüber heute möglicherweise vervierfachen. Auch hier sieht er WACKER mit seiner Aktivmaterialkompetenz an vorderster Front der Entwicklung. Wenn sich die Elektromobilität dank leistungsfähiger Energiespeicher weltweit durchsetzt, könnten es 2030 tatsächlich die Dabbawalas sein, die zur Hauptverkehrszeit das Zentrum von Mumbai mit dem Duft ihrer dampfenden Currys verzaubern.
Steckbrief
66%der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland glauben, dass Elektrofahrzeuge herkömmliche Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor ablösen werden. Jüngere vertrauen stärker darauf. Bei den über 50-Jährigen geben 55 Prozent dem Elektroauto die Zukunft. |
Ladesäulenfür Autobatterien stehen seit 2011 in allen deutschen Großstädten. |
Li Lithium ist abgeleitet vom altgriechischen „líthos“ (Stein) und ist ein chemisches Element mit dem Symbol Li und der Ordnungszahl 3. Den Namen Lithium bekam das Element, weil es im Gegensatz zu Natrium und Kalium im Gestein entdeckt wurde. Es ist das Alkalimetall der zweiten Periode des Periodensystems der Elemente. Lithium ist ein Leichtmetall und besitzt die kleinste Dichte der unter Standardbedingungen festen Elemente. |
Ziele für die Anwendungsbereiche für siliciumbasierte Lithium-Ionen-Batterien und das Potenzial für deren Leistungssteigerung
60–160 kmreicht derzeit bei Elektroautos der Strom aus Batterien. In Europa bewegen sich mehr als 70 Prozent aller Fahrten unter 40 Kilometern.
1899überschritt am 29. April der belgische Autorennfahrer Camille Jenatzy als erster Mensch mit einem Fahrzeug die 100-Stundenkilometer-Marke. Sein Gefährt hieß „La Jamais Contente“ („Die Nie-Zufriedene“) und war elektrisch angetrieben.
1 Mio.Elektrofahrzeuge mindestens sollen bis zum Jahr 2020 auf Deutschlands Straßen fahren. Dies ist gemeinsames Ziel der Nationalen Plattform Elektromobilität. 5 Millionen Elektrofahrzeuge sollen es bis zum Jahr 2020 auf Chinas Straßen sein. |
70%betrug 2011 der Anteil des Verkehrs am Ölverbrauch der Welt. Dafür reichen die Ölreserven nach heutigem Stand noch 40 Jahre. |